Was Marktforschung und Museen gemeinsam haben  

 

Die qualitative Marktforschung mit ihren ethnografischen Forschungsansätzen hat die Aufgabe, Verständnis von Motiven, Einstellungen, Bedürfnissen und Verhaltensweisen einer Zielgruppe zu generieren und daraus Handlungsableitungen für den Instituts-Kunden zu entwickeln. Ethnologie oder auch Völkerkunde im musealen Kontext hat fast die identische Aufgabe, nämlich das Leben von bestimmten Gruppierungen im Großen wie im Kleinen, wie zum Beispiel die multikulturellen Gruppen der Bevölkerung einer Stadt und deren Sichtweise zu verstehen.   

Im Interview mit der geschäftsführenden Direktorin des Kölnischen Stadtmuseums, Silvia Rückert, sprechen wir darüber warum Menschen und Museen sammeln, was ein Museum in ethnologischer Hinsicht leisten kann und (natürlich auch) über den Kölner Karneval.   

 

Frau Rückert, Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln sind die Hauptaufgaben eines Museums, um der Nachwelt etwas über Menschen, Gruppierungen und Völker sagen zu können. Wie entscheiden Sie, was Wert ist zu sammeln, um daraus Rückschlüsse auf Einstellungen, Bedürfnisse und Verhaltensweisen einer bestimmten Gruppe zu gewinnen? 

Nun, wir sind ein Stadtmuseum, deshalb sammeln wir Objekte, die unmittelbar mit der Geschichte unserer Stadt Köln zu tun haben und mit denen wir Geschichte(n) erzählen. Diese Narrative haben fast immer mit Menschen zu tun. Und Köln ist mentalitätsgeschichtlich eine faszinierende Metropole. Die Kölner:innen sind zum Beispiel geprägt von tiefer Frömmigkeit, den modernen Franzosen, die 1794 einzogen und Köln wirtschaftlich und kulturell zum Blühen brachten, den Preußen, denen man Ordnung und Disziplin zuschreibt und darüber hinaus hatten die Kölner:innen schon immer ihren – ich nenn es mal - Eigensinn und ihren rheinischen Frohsinn.  

Für die Sammlung heißt das, dass wir beispielsweise Objekte für religiöse Rituale im Bestand haben und weil die Stadtgesellschaft sehr heterogen ist, natürlich auch Exponate jenseits des Katholizismus. Wir besitzen aber auch Zeitzeugnisse aus der kurzen, aber für Köln sehr prägenden Franzosenzeit, wie zum Beispiel den Code Civil, der in der neuen Dauerausstellung zu sehen sein wird, wie auch die erste Ausgabe der in Köln verlegten Zeitschrift Emma, die kulturhistorisch gesehen für die Emanzipation der Frau in ganz Deutschland eine große Rolle spielte. Das Kölnische Stadtmuseum sammelt nicht nur Objekte aus der Vergangenheit, sondern auch Zeitdokumente, die durchaus mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und deren Bedürfnisse zu tun haben, wie etwa Transparente verschiedener Demonstrationen. Ausschlaggebend ist nicht der materielle, sondern der ideelle Wert und das Narrativ, das damit verbunden ist. 

 

Köln steht für ein lebendiges und buntes Stadtleben und ist sogar, anders als im Rest der Republik, mit fünf Jahreszeiten gesegnet. Dieser fünften Jahreszeit, dem Karneval, haben Sie Mitte des Jahres in Ihrem Haus eine Ausstellung in Kooperation mit dem Festkomitee Kölner Karneval von 1823 e. V. gewidmet. Würden Sie sagen, dass Karnevalisten ein eigenes Völkchen sind und sich eine ethnografische Forschung lohnen würde?  

Unbedingt! Die Karnevalistinnen und Karnevalisten verdienen es im positiven Sinne unter die Lupe genommen zu werden. Der Rheinische Karneval wurde im Übrigen mit all seinen lokalen Varianten am 16. März 2015 in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen. 

Der Karneval war früher wild und anarchisch, ohne Regeln. Bevor das närrische Treiben, dass den Preußen, die 1815 in Köln Einzug hielten und denen dieses Brauchtum nicht ganz geheuer war, verboten werden konnte, gründeten die Kölner 1823/24 das Festordnende Komitee, um den Karneval in geordnete Bahnen zu lenken.  

Kulturanthropologisch könnte man sagen, dass der Karneval eine lebendige Tradition ist, die Gemeinschaft und Identität schafft. Das spürt man in Köln sehr stark. Ich kenne keine andere Stadt, die von ihren Einwohner:innen in diesem Ausmaß geliebt wird, egal ob es gerade gut oder schlecht läuft in der Stadt. Diese Partnerschaft von Identität und Gemeinschaft ist zunächst einmal ein positives Gefühl, kann aber auch zu negativen Erscheinungen und Auswüchsen wie dem Klüngel führen. 

 

In unserer Eigenstudie „Was sammeln die Deutschen“ konnten wir feststellen, dass es eigentlich nichts gibt, was nicht gesammelt wird. Was denken Sie, steckt dahinter, dass Menschen Dinge sammeln und teilweise viel Geld für ihre Sammelleidenschaft ausgeben?  

Interessante Frage. Es ist ja oft so, dass wir schon in der Kindheit mit dem Sammeln anfangen und unsere Schätze in kleinen Kistchen bewahren - einfache Dinge, die uns interessieren, meistens erst einmal, ohne dass ein Konzept dahintersteckt. Es stellt sich die Frage, ob das mit dem Menschen als Jäger und Sammler zusammenhängt. Womöglich erforschen wir so unsere Umgebung und basteln uns, in dem wir anfangen, Dinge zu ordnen und in einen Kontext zu stellen, unser eigenes Bild von der Welt, die uns umgibt. Wir lernen dadurch auch zu vergleichen, indem wir Kriterien aufstellen und bewerten. Sicherlich spielen auch das Besitzen und das Beherrschen, das Streben nach Vollständigkeit ebenfalls eine Rolle. Man tauscht sich mit Gleichgesinnten aus und sammelt Expertenwissen und in manchen Fällen auch materiellen Besitz. Ohne große Sammler gäbe es keine Museen und keine Zeitzeugnisse aus der Vergangenheit. Vielleicht ist im Unterbewusstsein verankert, dass wir Dinge für die Nachwelt aufheben sollten. 

 

Was kann ein Museum in ethnologischer Hinsicht leisten, um vergangene Verhaltensweisen für die Zukunft zu nutzen?  

Wir forschen, vergleichen, leiten ab, erarbeiten Argumentationsketten und schauen, wie wir all die Erkenntnisse in neue Konzepte einbringen. Unsere neue Dauerausstellung, die im Herbst 2023 eröffnet wird, beschäftigt sich beispielsweise mit Emotionen. Was lieben wir? Was hassen wir? Was macht uns Angst? Was verbindet uns? Insgesamt stellen wir acht Fragen an die Vergangenheit und kommen in der Gegenwart wieder raus. Unser Kuratorenteam hat den historischen Teil erarbeitet. In einem sogenannten Reflexionsbereich haben wir mit einer sehr heterogenen Gruppe (Alter, Geschlecht, Religion etc.) zu jeder Frage Workshops durchgeführt. Alle Teilnehmer:innen haben ein Exponat aus ihrem Leben ausgewählt und ihre persönliche Geschichte damit erzählt. Bei diesem partizipativen Projekt kam heraus, dass die Freude, Ängste oder Hoffnungen oftmals sehr ähnlich sind wie zum Beispiel Angst vor Krankheiten oder die Liebe zur Musik. Durch Beobachtung, Partizipation und Mut zur Transformation sind Museen gewappnet Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Gegenwart und auch in die Zukunft zu katapultieren.  

 

Und wie sieht es in Museen mit der Zielgruppenanalyse aus? 

Während früher einige Wissenschaftler:innen die Angebote wie Ausstellungen und Publikationen oftmals für sich selbst und/oder für ihre Fachgruppe gemacht haben, spielt die Marktforschung eine immer größer werdende Rolle. Früher unterschied man eindimensional nach Zielgruppen, heute hingegen beschäftigt sich die Forschung - auch im kulturellen Sektor - mit Persona, mit fiktiven, aber konkreten Idealkunden, die nicht den durchschnittlichen, sondern spezifische Museumsbesucher:innen repräsentieren. Anhand von „Visitor Journeys“ werden die individuellen und situativ unterschiedlichen Berührungspunkte und Verhaltensweisen zwischen dem Museum und den verschiedenen Persona vor, während und nach dem Besuch eruiert. Im Museum können das durchaus mehrere verschiedene Profile sein, die es sich lohnt zu betrachten. 

Trotzdem kann man sagen, dass die Besucher:innenforschung in den Museen zwar schon lange läuft, aber noch viel Luft nach oben hat. Vor dem Hintergrund, dass die Gesellschaft einem stetigen Wandel unterliegt und dass das Rezeptionsverhalten der Besucher:innen sich ständig ändert, müssen wir immer wieder neue Fragen an die Geschichte stellen, neue Narrative erzählen und uns neuen Herausforderungen stellen. Wir müssen vor allem Transformationen als Chance für ein modernes Museum begreifen und sollten die Veränderungen nicht als Ballast sehen.  

 

Abschließend noch eine persönliche Frage: Von was sind Sie leidenschaftliche Sammlerin? 

Ich sammle nichts Gegenständliches. Ich liebe es mit inspirierenden Menschen zu reden und zu reisen. Ich sauge Kultur und andere Kulturen auf.  

 

Vielen Dank für das Gespräch und Ihre Zeit 

Bildcredit: AdobeStock

Silvia Rückert führt seit 2021 als Stellvertretende Direktorin die Geschäfte des Kölnischen Stadtmuseums, das im Herbst 2023 an einem neuen Standort eröffnen wird. Unter der Führung der erfahrenen Museumswissenschaftlerin erfährt das Museum zurzeit einen großen Transformationsprozess von einem klassischen zu einem modernen bürgernahen Museum mit multiperspektivischen und partizipativen Formaten. Darüber hinaus leitet sie die Abteilung Kölnisches Brauchtum. Zuvor waren ihre Station unter anderen im StadtPalais – Museum für Stuttgart, in den Reiss-Engelhorn-Museen und im Technoseum, beide in Mannheim. 

The authors

Written by EARSandEYES

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